Masernvirus löscht Immungedächtnis

Das Masernvirus löscht die Erinnerungsfunktion des Immunsystems an andere durchgemachte Krankheiten für mehrere Jahre aus. Infektionen mit anderen Krankheitserregern können schwerer verlaufen. Eine Masernimpfung kann das verhindern.

Neue Untersuchungen eines Forschungsverbundes aus Wissenschaftler*innen des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts und Forscher*innen aus Großbritannien und den Niederlanden bestätigen, dass durch eine Infektion mit dem Masernvirus die Erinnerungsfähigkeit des Immunsystems an andere Erreger quasi gelöscht wird. Die Betroffenen Personen sind über mehrere Jahre nach der Maserninfektion anfälliger für Infektionen mit anderen Erregern.

Schon lange ist bekannt, dass das Masernvirus, wie auch viele andere Viren, das Immunsystem des Erkrankten gegenüber anderen Krankheitserregern für einige Wochen schwächt. Dadurch kann sich das Virus im Körper gut vermehren und möglichst viele andere Menschen infizieren. Das geschwächte Immunsystem ist auch der Grund dafür, warum man während oder nach einer Erkrankung anfälliger für weitere Infektionen ist. Fast alle Eltern kennen die Situation, dass nach einer Viruserkrankung des Kindes noch die bakteriell bedingte Mittelohrentzündung oder eine Bronchitis oder Lungenentzündung hinterher kommt.

Masernvirus schädigt die Gedächtniszellen des Immunsystems

Nun konnten die Wissenschaftler zeigen, dass das Immunsystem von 10-15% der Kinder noch fünf Jahre nach einer Maserninfektion beeinträchtigt war. Das führte dazu, dass weitere Infektionen häufiger auftraten. Normalerweise speichert das Immunsystem nach einer durchgemachten Infektion Erinnerung an den jeweiligen Erreger in bestimmten Immunzellen, den so genannten B-Gedächtniszellen. Diese Zellen sind wichtig, denn bei einer erneuten Ansteckung mit dem Erreger gelingt es durch das Immungedächtnis der B-Gedächtniszellen, dass der Körper den Erreger sehr schnell eliminieren kann und die Person nicht erneut erkrankt. Nun zeigten die Untersuchungen, dass diese Zellen durch eine Maserninfektion in ihrer Funktion massiv gestört werden. Während bei Personen ohne Maserninfektion und bei geimpften Personen die B-Gedächtniszellen über Jahre stabil blieben, fand sie bei Personen nach einer Masernerkrankung eine bedeutsame Zunahme an mutierten – und damit funktionslosen – B-Gedächtniszellen. Daneben fanden sich Hinweise, dass nicht nur die Gedächtniszellen in ihrer Funktion beeinträchtigt sind, sondern dass auch die Reifung der B-Zellen im Knochenmark insgesamt gestört sein könnte. B-Zellen sind bei einer Infektion für die Produktion der passenden Antikörper zuständig.
Durch eine Maserninfektion wird sozusagen die „Festplatte“ des Immunsystems formatiert – das Immunsystem vergisst, mit welchen Erregern es zuvor bereits Kontakt hatte.

Auf Masernfälle folgen Todesfälle durch andere Infektionskrankheiten

Schon früher wurden Hinweise gefunden, dass das Masernvirus diese Wirkung auf das Immunsystem haben könnte. Als beispielsweise in den 1960er Jahren in den USA die Masernimpfung eingeführt wurde, sank die Zahl der Masernfälle bei Kindern deutlich. Das war nicht weiter überraschend, sondern nur eine Bestätigung, dass die Impfung wirksam vor einer Maserninfektion schützt. Interessanterweise wurde aber beobachtet, dass in der Folgezeit auch die Anzahl der Todesfälle aufgrund von anderen Infektionskrankheiten bei Kindern sanken. Beispielsweise ging nach der Einführung der Masernimpfung die Zahl der Todesfälle durch Lungenentzündungen oder Durchfallerkrankungen bei Kindern um etwa die Hälfte zurück.

Auch in anderen Ländern wurde bei der Einführung der Masernimpfung das gleiche Phänomen beobachtet. Wenn die Masernimpfung heutzutage in einem Entwicklungsland neu angewendet wird, sieht man einen ähnlichen Zusammenhang. Lange Zeit war es ein Rätsel, warum und wie die Kindersterblichkeit an unterschiedlichen Infektionskrankheiten sinkt, wenn gegen Masern geimpft wird. Forscher aus den USA haben im Jahr 2015 diese Frage untersucht. Dazu werteten die Forscher epidemiologische Daten aus, also Daten über die Krankheits- und Todesfälle und die Impfquoten in der Bevölkerung, aus mehreren Ländern (USA, Dänemark, Wales, England). Sie stellten fest, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Masernfälle zu einem Zeitpunkt und den Todesfällen durch andere Infektionskrankheiten zwei bis drei Jahre später gab. Offenbar macht eine Masernerkrankung Kinder für einige Jahre anfälliger für andere Krankheiten, und vor allem für schwere Verläufe. Die Forscher konnten anhand ihrer Daten nur die Hypothese aufstellen, dass das Masernvirus das Immungedächtnis löscht. Die aktuelle Arbeit bestätigt diese Vermutung sogar im Tiermodell. Frettchen, die zunächst eine Immunisierung (Impfung) gegen Influenzaviren (Grippe) erhalten und dann mit einem Frettchen-Masernvirus infiziert wurden, verloren die meisten Antikörper gegen die Influenza. Wurden sie dann mit Grippeviren infiziert, verlief die Erkrankung schwerer als bei Tieren, die nicht mit dem Masernvirus infiziert worden waren.

Masernimpfung schützt das Immunsystem vor dem Gedächtnisverlust

Eine Masernimpfung verhindert also nicht nur eine Masernerkrankung, sondern schützt auch das Immunsystem davor, mehrere Jahre nur geschwächt agieren zu können. Dadurch werden das Auftreten, schwere Krankheitsverläufe und mitunter auch Todesfälle durch andere Krankheitserreger verhindert.

Übrigens prüften die Wissenschaftler auch, ob sich ein vergleichbarer Effekt bei anderen Krankheiten, z.B. Keuchhusten feststellen lässt. Das Ergebnis: Nur das Masernvirus ist so aggressiv.

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